Musiktheorie heute

In der Musiktheorie hat sich in unserem neuen Jahrtausend einiges verändert. Emphatisch könnte man sagen, dass endlich Wissenschaft und Praxis zu einer vorher nicht gekannten Synthese gelangt sind. So kannte die historische Musikwissenschaft längst einen Großteil der wesentlichen musiktheoretischen Traktate, die meisten sind bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ediert worden – doch die institutionelle Musiktheorie interessierte sich wenig dafür. Unter dem Deckmantel des „künstlerischen Zugangs“ meinte man – wohl in bewusster Abgrenzung zu den Wissenschaftlern und natürlich in gewisser Weise einem Identitätsproblem entspringend1 – alles Wesentliche in den Noten selbst zu entdecken. Der Zugang erfolgte mittels einer Methodik, die in ihrer endgültigen Form eigentlich auf vor allem zwei Nationalsozialisten (Wilhelm Maler und Hermann Grabner) zurückgeht und weitgehend unhinterfragt sowohl Satzlehre als auch die harmonische Analyse bestimmte. So wurde die sogenannte Funktionsanalyse geradezu zum Synonym für Musiktheorie: Hatte man den Notentext erst einmal mit entsprechenden Funktionszeichen unterlegt – also jedem Akkord entweder ein S, D oder T zugeordnet, meistens mit einigen notwendigen Zusatzzeichen wie p, G, <5, durchgestrichenen Zeichen o. Ä. versehen, welche die zu zeigende Komplexität des untersuchten Meisterwerks unmittelbar optisch anschaulich machten – war auf handwerklicher Seite erst mal ein Wesentliches geleistet: darauf aufbauend konnte die nun noch ausstehende semantische Analyse folgen. Akkorde oder Harmoniefolgen, die besondere Schwierigkeiten bereiteten, wurden als „die Grenzen des Funktionsharmonik überschreitend“ hervorgehoben (oder man ging über sie hinweg), was entweder als Hinweis auf den ihr (in fein dialektischer Manier gedacht) bereits innewohnenden Zerfall oder als Relikt des modalen Kontrapunkts interpretiert werden sollte.

Eingesehen hatte man immerhin, dass man in der Musik der Renaissance mit den Funktionen doch irgendwie nicht allzu weit kommt. Infolgedessen entstand also ein Geschichtsbild, welches von einer „Epoche der Funktionsharmonik“ ausging – einem in sich scheinbar einigermaßen geschlossenen System harmonischer Syntax, das auf die modale Harmonik der Renaissance und des Mittelalters folgte, etwa stolze 250 Jahre währte und letztendlich mit den letzten tonalen Frühwerken Arnold Schönbergs und seiner Schüler heroisch zu Ende gebracht wurde. Die Musik des 17. Jahrhunderts, eine Musik des „Nicht mehr aber noch nicht“, bereitete natürlich methodische Probleme, weswegen man sie stillschweigend umging.

Fragt man nach dem Charakteristikum der Interpretationsästhetik des späten 20. Jahrhunderts, fällt einem wohl als erstes die „historisch informierte Aufführungspraxis“ ein. Eine „historisch informierte Musiktheorie“ folgte mit der für die Theorie charakteristischen Verspätung und hat – nach einigen verdienstvollen Vorreitern – erst im 21. Jahrhundert größere Verbreitung und Systematisierung erfahren und die Musiktheorie als Fach grundlegend neu gestaltet. Kommen wir also zur anfangs erwähnten Synthese von Wissenschaft und Praxis zurück: der Musiktheorie ist es gelungen, die lange unbeachteten historischen Dokumente für die Praxis fruchtbar zu machen und zu versuchen, die Musik aus dem Denken ihrer Zeit – soweit dieses rekonstruierbar ist – heraus zu verstehen, oder, vorsichtiger ausgedrückt, sich davon inspirieren zu lassen und festgefahrene Methodiken der gerade zurückliegenden Epoche zu hinterfragen. Durchaus mit der Entwicklung der historischen Aufführungspraxis vergleichbar, hat dies letztendlich zu der Erfahrung geführt, dass die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Materie eben nicht die künstlerische Autonomie gefährdet, sondern im Gegenteil erst der Kunst neue Impulse zu geben vermag, um sie überhaupt am Leben zu erhalten. 


Insofern kann als Paradigma der heutigen Musiktheorie festgehalten werden: nicht künstlerische Praxis oder Wissenschaft – indem beides zusammenkommt, ist das moderne und zukunftsfähige Fach mit dem zugegebenermaßen nach wie vor etwas verschrobenen Namen Musiktheorie geboren. Denn für haltlose theoretische Konzepte, die der Praxis und künstlerischen Reflexion nicht standhalten, bürgt auch keine vermeintliche historische Authentizität. Quellen wollen kritisch gelesen werden. Wenn man so will, wieder klarer Fall von Dialektik.



1 Vgl. hierzu: Ludwig Holtmeier, »Nicht Kunst, nicht Wissenschaft. Zur Lage der Musiktheorie«, in: Musik & Ästhetik 1/2, 1997, S. 116–146.