Absatz und Einschnitt

Der Absatz1 unterscheidet sich äußerlich von der Kadenz wesentlich in zwei Aspekten: Die Melodiestimme erreicht als Hauptnote nicht in den Grundton, sondern die Terz oder Quinte des Dreiklangs und endet überdies meist auf leichtem Taktteil, was durch einen (ggf. ausharmonisierten) Vorschlag (Appoggiatur) bewerkstelligt wird. Letzteres Merkmal ist sehr charakteristisch, aber nicht notwendig. Koch unterscheidet zwischen Grundabsätzen und Quintabsätzen. Grundabsätze führen in die Tonika, Quintabsätze in die Quinte. Bei Grundabsätzen ist als Zäsurton die Dreiklangsterz charakteristischer, bei Quintabsätzen die Quinte.


Grund- und Quintabsatz mit Vorschlag (Koch, Versuch II, § 96)


Absätze und Kadenzen beschließen vollständige Gedanken (Sätze), die (in einfacher Taktart) mindestens vier Takte umfassen. Ein Absatz hinterlässt jedoch im Unterschied zur Kadenz einen noch unvollständigen größeren Sinnzusammenhang, der noch mit mindestens einem kadenzierenden Schlusssatz vervollständigt werden muss. Auf diese Weise entsteht aus mehreren Sätzen ein(e) Periode (bei Koch maskulin), wie es sich auf einfachste Weise anhand der einfachen Menuettform demonstrieren lässt: Jeweils zwei enge Sätze (Vierer) verbinden sich zu zwei achttaktigen Perioden. Auf einen schwach zäsurierenden Absatz folgt jeweils eine abschließende Kadenz. Ein enger Satz ist nach Koch der kürzestmögliche vollständige Sinnzusammenhang.


J. Haydn: Menuett Hob.IX:3, 11
(GA: Grundabsatz; QA: Quintabsatz; K: Kadenz)


Der Einschnitt ist der unvollkommenste Ruhepunkt und von solcher Art, dass er inmitten eines Satzes stattfindet. Er markiert dementsprechend einen unvollständigen Gedanken, der aber immerhin insoweit Selbstständigkeit besitzt, dass er (ggf. transponiert oder versetzt) wiederholt werden oder von der anderen Hälfte des Satzes durch einen Einschub (Paranthese) abgetrennt werden kann. Der Umfang des betreffenden Satzgliedes ist in der Regel zwei (ggf. auch drei) Takte. Während der Absatz immer auch eine harmonische Zäsur erfordert (in der Regel auf dem Dreiklang der Tonika oder der Dominante, selten auch auf einem Sextakkord), ist der Einschnitt tatsächlich eine rein melodische Kategorie. In diesem Sinne unterscheidet auch Johann Adolph Scheibe:

„Ein bloßes Comma, ein Colon, ein Semicolon sind nur in der Melodie fühlbar; aber die Frage, der Ausruf, die Unterbrechung müssen durch die Melodie und durch die Harmonie zugleich ausgedruckt werden. Der Punkt ist der Schluß der Periode, folglich erhält er die Cadenz“ (Johann Adolph Scheibe, Über die Musikalische Composition (1773), § 117).

Der Einschnitt kann am Beispiel eines achttaktigen (zusammengeschobenen) Satzes demonstriert werden. Normalerweise bilden vier Takte einen engen Satz, der selbstständig ist, indem er einen vollständigen Gedanken ausdrückt (s. o.). Wird allerdings die melodische Endigungsformel des Vierers dem vorausgehenden Einschnitt angeglichen, verliert der Satz Koch zufolge seine Vollständigkeit und erscheint mit dem darauffolgenden Satz zusammengeschoben. Damit erhält man in den meisten Fällen eine Konstellation, die auch in der modernen Formenlehre als „Satz“ bezeichnet wird und aus zwei Zweiern und einem anschließenden Vierer besteht.

W. Mozart, Menuett KV 6
(E: Einschnitt)


Allerdings ist das Koch’sche Verfahren weitaus offener. Der 8-taktige Satz ist tatsächlich nur eine (wenn auch die weitaus häufigste) zahlreicher Möglichkeiten. So kann der anschließende Vierer auch länger (erweitert) sein oder wiederum mit dem nächsten Satz zusammengeschoben werden, letzteres beispielsweise mit demselben Verfahren, sodass etwa ein 12-taktiger Satz mit vier Einschnitten (2+2+2+2+4) resultiert. Ein komplexeres und sehr gewitztes Beispiel ist der zweite Teil aus dem Menuett der Sinfonie Nr. 82 („Der Bär“) von J. Haydn:


auf zwölf Takte erweiterter Achter mit ineinander verschachteltem Monte und Fonte


Zu Beginn erklingen zwei Zweier mit gleicher Endigungsformel: sie bilden deshalb gemeinsam keinen vollständigen viertaktigen Satz. Beide Zäsuren müssen als Einschnitte gewertet werden. In den darauf folgenden Monte ist jedoch im Sinne einer Parenthese ein Fonte eingeschoben, sodass ein insgesamt 12-taktiger Satz resultiert, der genau genommen mittels der melodischen Überleitung wiederum mit der darauffolgenden Reprise zusammengeschoben („aneinandergekettet“) erscheint.

Anhand der zusammengeschobenen Sätze wird eine wesentliche Errungenschaft der klassischen Syntax sichtbar: Der Grad an Vollkommenheit einer Zäsur ist nicht mehr (wie grundsätzlich in der barocken Kadenzlehre) allein von ihrer jeweiligen Beschaffenheit abhängig, sondern kann durch den jeweiligen Kontext beeinträchtigt werden: so verliert ein Absatz seine Funktion (und wird zum Einschnitt), wenn seine Endigungsformel der des vorausgehenden Einschnitts entspricht.2 Die verschiedenen Sätze und Satzglieder können so ganz elementar aufeinander einwirken.



1 Im Folgenden ist mit Absatz immer die entsprechende Zäsurformel gemeint. Koch bezeichnet mit dem Begriff auch den ganzen Satz.
2 Ausführlich hierzu: Markus Waldura, Von Rameau und Riepel zu Koch, Hildesheim u. a. 2002.