Dissonanz

Wenn wir das Spannungsgefälle erweitern wollen, müssen wir auf unsere dritte Intervallklasse zurückgreifen. Der Weg dann dann also von einer Dissonanz über eine imperfekte in eine perfekte Konsonanz.

Diese Möglichkeit bereichert unseren Satz nicht nur durch ein größeres Spannungsgefälle, sondern durch eine ganz prinzipielle Neuerung, durch welche der musikalische Verlauf eigentlich erst interessant wird. Dies lässt sich an einem Beispiel erklären:

Im oberen Beispiel gibt es nur perfekte und imperfekte Konsonanzen. Der Satz ist gegliedert durch die perfekten Konsonanzen, welche den Fluss der imperfekten unterbrechen. Zu jedem gegeben Zeitpunkt des Satzes befinden wir uns entweder an einem Ruhepunkt oder im Fluss, währenddessen wir nicht voraussehen können, wann der nächste Ruhepunkt eintritt. Jede Sexte kann in eine andere weitergeführt werden oder aber kadenzieren. Erst mit dem Erklingen der Oktave wissen wir, dass eine Kadenz stattgefunden hat.

Wenn wir nun die dritte Intervallklasse mit einbeziehen, entsteht die Möglichkeit, einen Ruhepunkt anzukündigen, ohne dass dieser tatsächlich erscheint. Die Dissonanz funktioniert dabei als Signalgeber, welcher den Kadenzvorgang einleitet. Tatsächlich findet sich bereits in der Musik des Mittelalters, die noch nicht so streng dem „Note gegen Note“-Prinzip unterworfen ist, eine besondere Häufung von Dissonanzen unmittelbar vor Phrasenenden. In der Musik des 15. und frühen 16. Jahrhunderts hat die Dissonanz praktisch allein dort ihren Platz.

In folgendem Beispiel findet ein Spannungsgefälle von einer Dissonanz in eine imperfekte Konsonanz statt. Sozusagen dem Gesetz der Trägheit folgend lässt dieses eine weitere Auflösung in eine perfekte Konsonanz erwarten, die aber sodann nicht erscheint. Eine der beiden Klauseln macht nicht ihren eigentlichen melodischen Schritt, sondern flieht in einen anderen Ton (oder eine Pause). Folglich handelt es sich um eine geflohene Kadenz (ital. cadenza sfuggita).

Das Potenzial dieses musikalischen Taschenspielertricks ist nicht zu unterschätzen: Es eröffnet sich die Möglichkeit, mit der Hörerwartung des Rezipienten zu jonglieren, d. h. jene mittels dem Vorgang des Kadenzierens anzuregen und entweder einzulösen oder zu enttäuschen. Erst dadurch wird der musikalische Verlauf zu der Art von Kriminalroman, wofür wir ihn so sehr schätzen.